#Willy Brandt in Oslo
Von Professor Dr. Einhart Lorenz
Vor fast 80 Jahren, am 7. April 1933 kam der 19jährige Lübecker Karl Herbert Ernst Frahm nach Oslo. Einen Tag später suchte er die Redaktion des „Arbeiderbladet“ – heute „Dagsavisen – und das Büro der Arbeiderpartei am Youngstorget auf. Geschickt hatte ihn eine kleine Partei, die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, die sich 1931 von der großen Sozialdemokratie abgespalten hatte.
Brandt kam mit einem politischen Auftrag: Er sollte einen Stützpunkt in Oslo für seine Partei aufbauen, Geld bei der Arbeiterpartei, die die Schwester von Brandts Minipartei war, „locker“ machen und die Lehren aus der deutschen Niederlage in Norwegen vermitteln. Damit war er nicht besonders erfolgreich, aber dafür umso mehr bei seinem grundlegenden eigenen Anliegen – dem Kampf für ein besseres und gegen ein nazistisches Deutschland
Zwar dachten Brandt und seine Partei in einer „langen Perspektive“, glaubten nicht, dass Hitler wie ein Spuk nach wenigen Monaten verschwinden würde, aber niemand dachte, dass er sieben Jahre bis zum Sommer 1940 in Norwegen bleiben würde, geschweige denn bis 1946 und dass er Teil des norwegischen Exil in Schweden und der produktivste Autor des norwegischen Widerstandes während des Krieges werden würde.
Diese 7 Jahre bis 1940 und die folgenden fünf als Deutsch-Norweger in Schweden haben W.B. menschlich und politisch geformt. Er selbst hat sie wiederholt als „die wichtigsten“ und „glücklichsten Abschnitte“ seines Lebens bezeichnet. Hier gewann er „Freundschaften fürs Leben“, bekam ein Netzwerk für die Nachkriegsjahre, reifte zum Außenpolitiker. Hier wurde er – um Bruno Kreiskys Formulierung zu benutzen – „der Inbegriff des politischen Verstandes“ und „eine politische Führungskapazität“.
Willy Brandt hatte Deutschland bei Nacht und Nebel – leichtsinniger Weise mit dem ersten Band von Marx’ „Kapital“ im spärlichen Gepäck – verlassen – 1947 kehrte er mit reichem intellektuellen und kulturellen Kapital zurück. In den Worten von Helmut Schmidt: Er hatte einen „unglaublichen Vorsprung an Lebenserfahrung“ gegenüber denen, die in NS-Deutschland gelebt hatten.
Er hatte eine andere politische Kultur gelernt, auch Sprachen, Zugang zu einer freien Presse und zur internationalen Diskussionen über Europa nach dem Kriege, er bekam einen neuen Blick auf Europa, nicht zuletzt auch Deutschlands östliche Nachbarn. Und: Er hatte Demokratie erfahren und gelernt, was er später auch in nach Deutschland vermittelte – so z.B., dass man sich im Storting nicht die Köpfe einschlug wie im Reichstag oder dass König Haakon VII der Arbeiterpartei trotz ihrer radkialen Vergangenheit 1928 den Regierungsauftrag erteilte. Arbeiter waren hier eben keine „vaterlandslosen Gesellen“ und Verräter wie in Deutschland.
Brandts erste Anlaufstelle war – wie gesagt – der Youngstorget: Arbeiterpartei, schnell auch AUF und LO in Folkets Hus, bald auch die Intellektuellen der Gruppe Mot Dag in der Storgate 12. Bereits vier Tage nach der Ankunft erschien sein erster Artikel im „Arbeiderbladet“ mit dem Titel: „Wie sieht es in Hitler-Deutschland aus?“ Nach etwas über zwei Monaten hielt er seinen ersten kleinen Vortrag in der damaligen Arbeiterhochschule auf Malmøya. Aase Lionæs, die spätere Vorsitzende des Nobelkomitees, half ihm sprachlich. Zu seinen Füssen saß Trygve Bratteli, der spätere Ministerpräsident.
Sein eigentliches Zuhause wurde die Arbeiterjugendbewegung, in der – wie er schrieb – „neben der Politik auch Unterhaltung und Tanz zu ihrem Recht [kamen]. Hier gab es viel Kenntnis der skandinavischen und der Weltliteratur, viel Aufgeschlossenheit für die geistigen Strömungen Westeuropas und Amerikas.“ Er nahm an den Aktivitäten teil, hielt Vorträge und Kurs im Osten wie im Westen der Stadt.
Seine Wohnungen – in der Hollendergate 2, dann im Neubaustadtteil Sinsen und schließlich in der Observatoriegate gleich hinter der heitigen NB – waren Anlaufstellen für neue Emigranten, Orte politischer und intellektueller Debatten und Arbeitsplätze, in denen die Schreibmaschine wichtiger war als der Küchentisch.
Willy Brandt kreuzte Grenzen. Oslo war in den 1930er Jahren eine sozial und politisch tief gespaltene Stadt. Brandt überwand diese Grenzen, gewann Freunde in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Die Teilnehmer seiner Kurse waren von seinem Wesen ebenso beeindruckt wie von seinem Wissen. Die Intellektuellen der Mot Dag-Gruppe lernten von dem viel jüngeren Brandt – so z.B. der spätere Bürgermeister Brynjulf Bull und manch ein späterer Professor. Schriftsteller wie Sigurd Hoel und Arnulf Øverland gehörten zu seinem Bekanntenkreis, der Psychologieprofessor Harald Schjelderup setzte sich für ihn bei der Fremdenpolizei ein. Brandts unermüdlichem Einsatz in unterschiedlichen politischen und sozialen Kreisen war es mit zu verdanken, dass Carl von Ossietzky 1936 der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde.
Das alles klingt wie eine Erfolgsstory. Das war es auch, aber sie wurde hart errungen. Es gab Neider, es gab Zeitungen, die den „Revolutionshelden Frahm“ denunzierten – Morgenbladet – und es gab eine Fremdenpolizei, die schon nach zwei Wochen auf ihn aufmerksam wurde als eine große Boulevardzeitung – Dagbladet – über „einen jungen deutschen Flüchtling“ berichtete. Viermal hing seine Aufenthaltsgenehmigung an einem dünnen Faden.
Hätte sich nicht Oscar Torp, der Vorsitzende der Arbeiterpartei und – auch er – spätere Osloer Bürgermeister – für ihn eingesetzt, gäbe es heute nichts über Brandt, der mit falschen Namen, Pässen und Identitäten in Norwegen arbeitete, ja arbeiten musste, zu berichten.
So aber konnte Brandt hier in Oslo lernen, was er nicht aus Deutschland kannte, nämlich „was gute Nachbarschaft bedeutet, im Inneren wie nach aussen“ und – um weiter aus seiner Nobelpreisrede zu zitieren – „die Begriffe Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität [...] auf allgemein gesellschaftliche und internationale Zusammenhänge zu übertragen.“ Und in Norwegen konnte, wer Augen und Ohren offen hatte, durch Brandt Artikel, Vorträge und nimmermüde Aktivität lernen, dass Nazismus Krieg bedeutete – und das lange vor dem 9. April 1940.
*Prof. Dr. Einhart Lorenz hat diesen Vortrag im Rathaus von Oslo am 31. Oktober 2012 anlässlich der Vereleihung des norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Preises gehalten und freundlicherweise für die Webseite der Stiftung zur Verfügung gestellt.*
WEITERE INFORMATIONEN ÜBER WILLY BRANDT UND NORWEGEN
Aus deutschen Medien
Prägende Jahre: Willy Brandt im Exil. NDR.de, 09.12.2013.
"Von meinem Vater habe ich mich nie verlassen gefühlt". Interview mit Brandts Tochter Ninja Frahm. Die Zeit, 18.11.2013.
„Durchhalten und überleben“. Aus den Erinnerungen von Willy Brandt. IV. Unter deutscher Besatzung in Norwegen 1982. Alle Rechte der deutschen Ausgabe beim Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Der Spiegel, 27.09.1982.
„Meine zweite Heimat“ – Willy Brandt im skandinavischen Exil. Besser Nord als nie, 16.12. 2013.
Willy Brandt im Exil. Interview mit Manfred Dammeyer, SPD. Deutschlandfunk, 02.05.2015.
Texte von Willy Brandt auf Norwegisch und Schwedisch
Det organiserte vanvidd. Våpenkappløp og verdenssult. Cappelen, 1986. Komplettes Buch.
Brandt-Kommisjonens rapport: Nord - sør. Et program for å overleve. Tiden 1980. Med forord av Thorvald Stoltenberg. Kompletter Bericht.
Frihet til venstre. Erindringer 1930-1950. Cappelen 1983. Komplettes Buch.
To fedreland. Skrifter i emigrasjon. Tiden 1966. Komplettes Buch.
Møter og minner. Erindringer, 1960-1975. Cappelen 1977. Komplettes Buch.
Min vei til Berlin. Cappelen 1960. - 242. Komplettes Buch.
Tyskland under Adenauer. Aschehoug 1954.
Forbrytere og andre tyskere. Aschehoug 1946.
Oslouniversitetet i kamp. Utrikespolitiska institutet, Stockholm 1943. Komplettes Buch.
Kriget i Norge 9. april - 9. juni 1940. Stockholm, Bonnier, 1941. Komplettes Buch.
Literatur
Einhart Lorenz: Willy Brandt in Norwegen. Kiel 1989
Willy Brandt ”Berliner Ausgabe“, herausgegeben von Helga Grebing, Gregor Schöllgen and Heinrich August Winkler im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, 10 Bände, Bonn 2000-2009:
Bd. 1: Einhart Lorenz: Hitler ist nicht Deutschland. Jugend in Lübeck – Exil in Norwegen 1928-1940
Bd. 2: Zwei Vaterländer. Deutsch-Norweger im schwedischen Exil – Rückkehr nach Deutschland 1940-1947
Einhart Lorenz (Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität - Hrsg): Willy Brandt - Perspektiven aus den Exiljahren , Berlin 2000
Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Reihe "Willy-Brandt-Studien": Bd. 2: Robin B. Allers: Besondere Beziehungen. Deutschland, Norwegen und Europa in der Ära Brandt (1966 bis 1974), Bonn 2009
Uwe Heilemann: Norge med Willy. Durch Norwegen auf den Spuren von Willy Brandt. Mit einem Vorwort von Hans-Jochen Vogel, Norderstedt 2003 Das Buch lesen...
Einhart Lorenz: Willy Brandt i Oslo, Oslo 2013 (Reiseführer, hg. von der Norwegisch-Deutschen Willy-Brandt-Stiftung)
Helga Grebing, Ansgar Lorenz: Willy Brandt. Eine Comic-Biografie, Berlin 2013
Heiner Lünstedt, Ingrid Sabisch: Willy Brandt. Sein Leben als Comic, Berlin 2013