Zu Tisch mit Legenden
Von Günter Grass
Wer in Lübeck redet, darf darauf bauen, daß in der Literatur und gar in ihrer zwielichtigsten Sparte, der Dichtung, die Verfertigung von glaubwürdigen Lügengeschichten geeignet ist, der Wahrheit oder besser, den Wahrheiten auf die Sprünge zu helfen. Zum Beispiel: Wie geht man erzählend mit Personen um, die man annähernd gekannt hat, sich ihnen sogar befreundet sah und die bereits vor ihrem Tod - um so verbürgter danach - zu Legenden wurden. Gut, man erinnert sich. Aber an was erinnern wir uns? Das Gedächtnis selektiert, schwächt ab, verschärft im Detail, färbt schön, reißt Wunden auf, verliert sich in Anekdoten, die mal so, mal so zu erzählen sind.
Heute will ich mit personifizierten Legenden zu Tisch sitzen. Ob Linseneintopf, Schweinekopfsülze, ein mit Backpflaumen gefülltes Rinderherz oder Fischsuppe; ich koche gerne für Gäste. Aus freundschaftlichem Gelüst oder auf literarischer Spurensuche werden Lebende, aber auch Tote zu Tisch gebeten; was die Lebenden betrifft, nicht ohne listige Hintergedanken. So geschah es vor langer Zeit, im Herbst 68. Auf den Straßen wurde die Revolution geprobt. In Vietnam sollte die Demokratie mit Napalm herbeigebombt werden. In Prag hatten die Panzer gesiegt. Während bewegter Zeit also hatte ich etwas Revisionistisches im Sinn, das sich nach Schneckenart auf Kriechsohlen bewegte. Eine sozialdemokratische Wählerinitiative sollte bundesweit aufgebaut und im Wahlkampf des folgenden Jahres nützlich werden. Bis dahin bloßes Papier. Noch sträubte sich einer der führenden Genossen gegen eine solch spontane, nicht von der Partei organisierte Initiative, die womöglich ketzerisch dem Godesberger Programm spotten könnte. Also lud ich nach Berlin in die Friedenauer Niedstraße zur Fischsuppe ein. Und sie kamen. Nicht nur der Vorsitzende Willy Brandt und der Erfinder der “Konzertierten Aktion”, Karl Schiller, die beide dem Vorhaben unserer überschaubaren Gruppe geneigt waren. Vorerst abweisend saß mit obligater Pfeife auch Herbert Wehner am langen Tisch, auf dem bereits die Suppenteller standen.
Das geschah an einem Freitag. Mein restlicher Katholizismus hatte bei der Wahl des Gerichtes den Löffel geführt. Der Fischsuppe gaben Ostseedorsch, Rotbarsch aus der Nordsee sowie eine Makrele die Grundlage. Der Dorschkopf und der Rotbarschkopf wurden mit Lorbeerblättern und Senfkörnern vorgekocht, um einen kräftigen Sud zu gewinnen. Kartoffeln, Möhren, Lauchzwiebeln und nur zwei Knoblauchzehen kochte ich in dem Sud, legte dann erst die kopflosen Fische dazu, ließ sie auf kleiner Flamme garen, nahm sie aus dem Topf und - abgekühlt - von den Gräten, gab nun Kapern an den Sud und einen Schuß Weißwein, legte die entgräteten Fische in Stücken dazu, ließ alles bei wenig Hitze ziehen und grünte, kurz bevor die Gäste kamen, das Ganze mit frisch gehacktem Dill. Wenn ich mich recht erinnere, rührte ich zum Schluß, weil die Makrele ein wenig vorschmeckte, ein Achtel Sahne an die Suppe.
Das Essen tat Wunder. Klug und zivilisiert eitel kommentierte Schiller unser Vorhaben. Herbert Wehner sah sich offenbar nicht von Feinden und Verrätern umgeben. Willy Brandt sagte einerseits andererseits. Und wir, die Initiatoren, nahmen Gelegenheit, wie beiläufig unseren kühnen Plan auszubreiten. Sozialdemokratische Wähler, die durchaus nicht geneigt waren, Parteimitglied zu werden, wollten in pechschwarzen, aber landschaftlich lieblichen Wahlkreisen und auch dort, wo Direktmandate knapp zu gewinnen waren, Wählerinitiativen anregen, die der Partei von außen her helfen sollten, endlich und nach so viel vergeblichen Anläufen eine sozialliberale Regierung zu bilden, auf daß die von uns nur mühsam tolerierte Große Koalition ihr Ende fände.
Einen zweiten Schlag Fischsuppe teilte ich mit gerecht schöpfender Kelle aus. Alle nahmen. Die Suppe wurde gelobt und unsere Initiative als bedenkenswert gewichtet; aber erst Wochen später, bei einer Gegeneinladung im schlichten Haus Herbert Wehners in Bad Godesberg - es kamen allerlei schwedisch marinierte Heringe auf den Tisch -, gab der allzeit mißtrauische Kärrner der Partei aufgrund eines sich produktiv auswirkenden Mißverständnisses - er murmelte etwas von Leninscher Bündnispolitik, hielt uns also für nützliche Idioten - seinen Segen zu unserem Unternehmen. - Man erinnere sich, daß ein Jahr später knapp, aber doch die Wahl gewonnen und Willy Brandt Bundeskanzler wurde. Das ist lange her, will mir aber, mitsamt der Fischsuppe, die Wunder wirkte, nicht aus dem Sinn. Warum wohl?
Heutzutage wüßte ich nicht, wen ich so konspirativ zu Tisch bitten könnte, wenngleich es Anlaß genug gäbe, als Bürger in das diffuse Geschehen unserer Tage einzugreifen, etwa das gesellschaftliche Vehikel auf abschüssiger Bahn zu bremsen und so der allgemeinen Beschleunigung, die den Stillstand kaschiert, zuwider zu handeln. Zwar fehlt es nicht an hilfsbedürftigen Politikern, doch Mangelware sind politischer Weitblick und der Wille, die Ursachen unserer vielfältigen Misere freizuschaufeln. Es fehlt der Mut zu dem, was Willy Brandt einst, in Anlehnung an Ernst Bloch, “konkrete Utopie” genannt hat.
Seitdem das sowjetische Herrschaftssystem zusammengebrochen, Europa zwar nicht mehr geteilt ist, sich jedoch ohnmächtiger denn je begreift, erleben wir die Vereinigten Staaten von Amerika als dominierende Weltmacht in ständiger Überforderung. Entsprechend ungehemmt greift die kapitalistische Marktwirtschaft auf brutale, man glaubte, längste überwundene Methoden zurück, läßt sich als “neoliberal” etikettieren und betreibt die Globalisierung als alternativlose Zwangsläufigkeit. Indem sie beherrscht sind, werden Märkte vernichtet. Die Börsenkurse spiegeln den Prozeß dieser schier unaufhaltsamen Selbstzerstörung. Mangels anderer Widerstände ist sich der Kapitalismus selbst zum Feind geworden. Und was die
Selbsteinschätzung der USA betrifft, gibt sich die Hybris des Hegemon neuerdings gottgewollt.
So konnte es nicht verwundern, daß die alleinherrschende Weltmacht auf den Wahn islamistischer Eiferer mit christlichem Fundamentalismus und auf den Terror der Fanatiker, der sich methodisch der Globalisierung angepaßt hat, so machtvoll wie ohnmächtig mit Gegenterror, mit Krieg auf Krieg reagierte. Sicher, es gab Gegenstimmen. Gewohntes Mitmachen wurde verweigert. Doch nirgendwo wird in den politischen Zentren unserer verrückt spielenden Welt nach den Anlässen für so viel Haß und selbstmörderische Gewalt gefragt. Die zunehmende Verarmung in den ohnehin ärmsten Ländern ist allenfalls ein Thema am Rande. Scheinbar will niemand die Gründe wissen, warum wachsender, bislang mit passiver Leidensfähigkeit ertragener Hunger und die permanente Demütigung sogenannter “unterentwickelter” Völker plötzlich in Zorn und nahbei oder weit entfernt in Gewalttätigkeit umschlägt. Der Haß kennt keine Grenzen. Wer ihn bekämpfen will, muß nach seinen Ursachen fragen. Doch in der Regel sind es hausbackene Interessen, die die Politiker der reichen Länder daran hindern, die Wurzeln des von ihnen geförderten, wenn nicht
verursachten Unheils freizulegen, denn das hieße, radikal zu handeln.
Dabei gab es einst Politiker von solch weitblickendem Format. Sie haben eine Zeitlang die europäisch-amerikanische Egozentrik aufgehoben. Ich wünschte, man würde sich ihrer besinnen. Während noch der andauernde Ostwestkonflikt alles politische Denken und Handeln bündelte und das Wettrüsten die finanziellen Möglichkeiten beider Blocksysteme erschöpfte, haben sie auf die ungerechte Weltwirtschaftsordnung, auf den todbringenden Zusammenhang von Rüstung und Verelendung, von nördlichem Reichtum und südlicher Armut hingewiesen. Sie haben Berichte erarbeitet und Vorschläge gemacht, die hochgelobt, auf Konferenzen beklatscht und dann anhaltend mißachtet wurden. Nicht daß man ihre Ermahnungen gänzlich vergessen hat. Ehrenwerte, aber politisch einflußlose Forschungsinstitute erinnern uns gelegentlich mit Denkschriften an die Existenz des inzwischen legendären Nord-Süd-Berichtes. Und auch ich beschwöre in meiner Ratlosigkeit immer wieder diese papiergebliebene Großtat, zuletzt in einer Rede, die ich vor knapp einem Jahr gehalten habe, als sich die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck endlich entschlossen hatte, ein Willy-Brandt-Haus einzurichten.
Heute nun wiederum. Ihn, den großen Vorsitzenden, möchte ich herbeizitieren, auf daß er uns, vom Strickwerk emsiger Legendenbildung befreit, wieder deutlich werde. Und weil mir mit Tinte und Feder auf weißem Untergrund dieses und jenes, sogar das Beschwören von Wunschbildern möglich ist, lade ich ihn abermals ein und bitte mit ihm zwei weitere Politiker von dazumal zu Tisch. Die drei kennen sich gut. Zwei von ihnen befreundeten sich zur Zeit der Emigration in Stockholm. Den Dritten und Jüngsten hat gleichfalls, weil schwedischer Herkunft, das skandinavische Klima geprägt. So unterschiedlich sie ins Bild treten könnten, eint sie doch so viel: alle drei sind demokratische Sozialisten.
Ob sie kommen werden? Diesmal gibt es Linsensuppe. Ich weiß, sie sind der vielen, oft steif offiziellen Essen müde. Ein einfaches Gericht könnte ihnen jedoch verlockend sein. Denn da sie nunmal sozialdemokratischer Herkunft sind, werden sie meine proletarischen Hülsenfrüchte nicht verachten. Mit Hammelfleisch und Sellerie habe ich die Linsen gekocht. Den besonderen Geschmack gibt gerebbelter Majoran. Auf meinem einladenden Papier, das nicht nur sprichwörtlich geduldig ist, sondern auch weite Sprünge, zum Beispiel den Ausflug in biblische Landschaft erlaubt, habe ich meine Gäste daran erinnert, daß Esau - auch so ein Revisionist - seine Erstgeburt für einen Teller Linsen hergegeben hat.
Noch zögern die Drei. Zwar werden übervolle Terminkalender nicht mehr hinderlich sein, aber womöglich hält sie die Vermutung zurück, sie könnten dem gegenwärtig tonangebenden Zeitgeist nicht entsprechen. Für mehr Gerechtigkeit oder, wie Brandt seinerzeit sagte, “für ein bißchen mehr Gerechtigkeit” zu plädieren oder gar zu kämpfen, hat mittlerweile den Beigeschmack des Altmodischen. Man würde sich im Klima wohltemperierter Coolness als “Sozialromantiker” lächerlich machen.
Dann, nachdem ich auf meinem einladenden Papier diese und jene Hemmschwelle abgehobelt und meinen vermessenen Anspruch gesteigert habe, kommen sie doch noch. Als erster und unbekümmert selbstbewußt, als repräsentiere er nicht das kleine Österreich, sondern die großmächtige K.u.K.-Monarchie, sitzt Bruno Kreisky am Tisch. Dann nimmt ein wenig zerknittert, aber mit immer noch jungenhaftem Charme, Olof Palme Platz. Schließlich nähert sich mit entschuldigender Geste Willy Brandt: Es sei nicht einfach, in Lübeck einen Parkplatz zu finden.
Und während ich noch in tiefe Teller die aufgewärmte Linsensuppe schöpfe, beginnen die drei personifizierten Legenden zu plaudern. Anfangs geht es anekdotisch zu: Gemeinsam gelebte skandinavische Jahre geben einiges her. Dann, unvermeidlich, wird die unaufgeklärte Mordgeschichte getischt: lückenhafte Berichte der Stockholmer Polizei. Kreisky nörgelt lästerlich über seine Amtsnachfolger. Brandt weigert sich, nochmals seinen Rücktritt zu begründen, und erzählt ersatzweise einen Witz, in dessen umständlichem Verlauf sich Herbert Wehner und Walter Ulbricht im Himmel treffen. Endlich kommen sie zur Sache. Oder will nur ich, daß sie endlich zur Sache kommen? Zum Beispiel, wie man gemeinsam erfolgreich war, als sie zu Dritt den überall tätigen Henry Kissinger hinderten, die bis dahin unblutige portugiesische Revolution nach chilenischem Muster zu befrieden. Dann aber stehen Scheitern und Vergeblichkeit auf der Tagesordnung: der Nord-Süd-Bericht. Selbst in den eigenen Parteiorganisationen habe es kaum ein Echo gegeben. In der Presse - oder wie man heute sage - in den Medien sei alles zerredet worden. Nachfolgende Kongresse und Gipfeltreffen hätten nur unverbindliche Erklärungen zu Papier gebracht. “Außer Spesen nichts gewesen!” Noch immer, wenn auch mit allerneuesten Waffensystemen, herrsche der “organisierte Wahnsinn”.
Kreisky, der Wert darauf legt, schon immer skeptisch gewesen zu sein, tröstet die beiden anderen Tischgenossen mit dem Hinweis, daß mittlerweile Begriffe wie “Weltinnenpolitik” und “globale Verantwortung” überall geläufig seien und in jeder politischen Rede Verwendung fänden, wenn auch nur floskelhaft.“ Ironischerweise seid ihr es gewesen, die mit der Globalisierung angefangen habt. Ist leider was anderes dabei rausgekommen.”
Gemeinsam beklagen sie, daß sich während der kurzen Phase der Abrüstung die erhoffte “Friedensdividende” nicht ausgezahlt habe. Alles sei wieder rückläufig. Zuwachsraten gäbe es nur in den statistischen Sparten Armut, Verelendung, Hunger. So dünge man den Nährboden für Haß, religiösen Wahn und mittlerweile alltäglich gewordenen Terrorismus. Ein Ende sei nicht abzusehen.
Doch während noch meine drei Gäste als überlebende Legenden den zweiten Teller Linsensuppe löffeln, Kreisky darauf besteht, die selbstmörderische Wechselwirkung von Terror und Gegenterror, Israel betreffend, vorausgesagt zu haben, Brandt und Palme noch einmal die wirksame Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer fordern und ich gehört habe, was ich hatte hören wollen, vergeht mir meine herbeigewünschte Tischgesellschaft; und auch von der Linsensuppe ist nichts mehr übrig.
Bleibt also in unserer beschlußarmen Gegenwart das Scheitern die einzig beschlossene Sache? Wird weiterhin alles bergab rollen, was, mühsam genug, auf halbe Höhe gebracht wurde? Und um der beliebten Frage nicht auszuweichen: Wo bleibt - außer der heutigen Preisvergabe - das Positive?
Es liegt zwar nicht auf der Hand, wohl aber unter dem Müll unserer kleinmütigen Bedenken und egozentrischen Interessen begraben. Denn eigentlich spricht alles für ein erfolgreiches Bemühen: noch nie war die Menschheit so gut informiert; noch nie waren während der langen Geschichte des Menschengeschlechts die Vorräte an Nahrung so ausreichend und überschüssig; nie zuvor gab es so viel weltumfassende Transportkapazität: weltweit vernetzt könnten wir im Nu handlungsfähig sein. Und doch bleiben wir untätig wider besseres Wissen, horten preistreibend die überschüssige Nahrung, transportieren weltweit Waffen und deren menschliches Zubehör, überlassen uns der Willkür der einzig verbliebenen Weltmacht und sehen zu, wie sich unsere magersüchtige Hoffnung von einem Cancun zum nächsten
vertagt.
Vor einem Vierteljahrhundert haben uns Politiker wie Willy Brandt bewiesen, auf welch tätige Weise Konfrontationen entspannt, Konflikte vorausschauend erkannt werden können. Mein Versuch, ihn - wenn auch nur spekulativ - in guter Gesellschaft zu Tisch zu bitten und mit einem Linsengericht zu verköstigen, hat, so hoffe ich, deutlich werden lassen, wo unsere Hoffnung begraben liegt, weshalb wir sie freischaufeln müssen und daß das Verlangen der armen Völker nach Gerechtigkeit von dieser Welt ist, denn eine andere haben wir nicht.
Günter Grass hat diese Rede während der Verleihung des Norwegischen-Deutschen Willy-Brandt-Preises am 18. September 2003 gehalten. Die Verleihung fand damals in Lübeck statt und die Preisträgen waren Dr. Nils Morten Udgaard und Prof. Dr. Einhart Lorenz